Alle Stories
4 min

200 Jahre Gießerei Weilbach: Stapler in Balance halten

Es ist das mit Abstand größte und schwerste Bauteil eines Gabelstaplers: Das Gegengewicht, das ein Umkippen des Staplers bei schwerer Last verhindert. Für die KION Group werden die tonnenschweren Gusseisenteile u.a. in der Gießerei in Weilbach im Odenwald gefertigt. Jetzt feiert der Standort der KION Marke Linde Material Handling sein 200-jähriges Bestehen.

2022-07-08

Was ist das Herzstück eines modernen Gabelstaplers? Darüber lässt sich trefflich streiten: Es könnte zum Beispiel die Hydraulik sein, der Motor, bei Elektrostaplern auch die Batterie – oder neuerdings die digitale Vernetzung. Kein Zweifel besteht dagegen darüber, welches Bauteil das größte und schwerste ist: Das ist fraglos das Gegengewicht. Es hält den Stapler samt tonnenschwerer Last in Balance, quasi wie bei einer Wippe: Weil das Fahrzeug selbst samt Gegengewicht schwerer ist als die (maximal zulässige) Last auf den Gabelzinken, wird ein Umkippen des Staplers verhindert.

Gegengewichte für Linde MH und STILL

Und wo wird so ein tonnenschweres Bauteil hergestellt? Für die KION Group gibt es in Deutschland zwei Standorte dafür: Im niedersächsischen Dinklage, wo rund 150 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter täglich 60 bis zu sechs Tonnen schwere Gegengewichte vor allem für die Marke STILL produzieren – seit 1974. Und, mit einer weitaus längeren Historie, in Weilbach im Odenwald, im „Werk 4“ der KION Marke Linde Material Handling: Dieses Werk feiert dieses Jahr sein 200-jähriges Bestehen. Dort riecht es nach Schwefel und Lack, am 1.500 Grad heißen Kupolofen fliegen die Funken – Industrieromantik pur also. Gleichzeitig arbeitet man in an den beiden Gießerei-Standorten der KION Group mit modernsten Fertigungsmethoden.

Im niedersächsischen Dinklage werden seit 1974 schwere Gegengewichte vor allem für die Marke STILL produziert.

Ein Beispiel: Wenn die Gegengewichte nach dem Guss aus der Form genommen werden, müssen die Gussblöcke abgeschliffen und von sogenannten „Gussgraten“ befreit werden. Während diese mühselige Arbeit früher ausschließlich per Hand mit der Flex ausgeführt wurde, unterstützt heute in Weilbach auch ein „Putzroboter“ bei dieser Tätigkeit.

12-Millionen-Euro-Investment

In den vergangenen Jahren sind zwölf Millionen Euro in die Weilbacher Gießerei investiert worden. „Die Komplexität der Bauteile nimmt zu“, sagt Frank Koch, der das Werk seit 2018 leitet. So schützt das Gegengewicht etwa auch den Motor des Gabelstaplers – und damit dieser problemlos eingesetzt werden kann, braucht es passgenaue Hohlräume. Die entstehen mithilfe von Sandkernen. Das Verfahren zur Herstellung nennt man „schießen“. In der Kernschießmaschine werden Sand und Bindemittel gemischt und mit Hochdruck in eine Form geschossen. Die fertigen Kerne werden in eine hitzeresistente Flüssigkeit getaucht und in die Gussform eingesetzt. Genauso entsteht übrigens auch die Aussparung für die Anhängerkupplung.

In den vergangenen Jahren sind zwölf Millionen Euro in die Weilbacher Gießerei investiert worden.

An derartige Präzision war noch nicht zu denken, als der damals 29-jährige Johann Michael Reubold das Werk im Jahr 1822 gründete – zunächst als sogenannter „Eisenhammer“: Ein Handwerksbetrieb zur Herstellung von Schmiedeeisen. Bereits vier Jahre später erweiterte Reubold sein Unternehmen, erhielt die Schmelzkonzession und fertigte fortan gusseiserne Öfen, Zahnräder und Mühlen-Triebwerke. 1899 übernahmen zwei Frankfurter Geschäftsleute den Betrieb und spezialisierten das Werk für die Herstellung von Heiz- und Trockenanlagen, Drehöfen und Apparaten für die chemische Industrie. Schon damals wurden in Weilbach Bauteile von bis zu 3,5 Tonnen gegossen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg folgte eine weitere Spezialisierung, diesmal auf Einzelteile von Motoren und Flügelräder für Turbinen. Angeblich wurden in Weilbach in den 1960er Jahren sogar Turbinenteile für den Assuan-Staudamm in Ägypten produziert. Seit Mai 1975 schließlich gehört die Gießerei zur KION Marke Linde Material Handling. Entscheidend für die Übernahme war damals vor allem die geografische Nähe zum Aschaffenburger Staplermontagewerk von Linde MH – die beiden Orte sind nur rund 35 Kilometer voneinander entfernt. Heute verlassen täglich 165 Gabelstapler-Gegengewichte den Hof in Weilbach: Perfekt gegossen und geschliffen und in den allermeisten Fällen rot lackiert: in der klassischen Farbe der Linde-Stapler.

Perfekt gegossen und geschliffen und in den allermeisten Fällen rot lackiert: in der klassischen Farbe der Linde-Stapler.

Nachhaltigkeit als größte Herausforderung

„Ich bin unheimlich stolz, Teil dieser Geschichte zu sein und froh, dass wir die Zukunft des Werks mitprägen dürfen“, sagt Werksleiter Frank Koch mit Blick auf das Standort-Jubiläum. Die wichtigste Herausforderung für die kommenden Jahre sei das Thema Nachhaltigkeit, so Koch weiter: „Wir wollen unseren CO2-Ausstoß massiv verringern.“ Gegengewichte bestehen zu 100 Prozent aus geschmolzenem Altmetall – zum Beispiel ausrangierte Gullideckel oder alte Wasserrohre. „Eigentlich betreiben Gießereien damit schon immer Recycling“, sagt Koch schmunzelnd. Doch Kupolöfen wie der in der Weilbacher Gießerei verbrauchen viel Energie.

Wie lässt sich der hohe Energiebedarf des Standorts einerseits und der erklärte Wunsch nach Nachhaltigkeit andererseits in Einklang miteinander bringen? Die Weilbacher haben zur Beantwortung dieser Frage eine Task-Force gegründet, die sich mit unterschiedlichen Ansätzen beschäftigt. Eine davon ist ein Test mit Bio-Koks, der derzeit vorbereitet wird. Werksleiter Frank Koch: „Koks ist der aktuelle Energieträger, der es uns ermöglicht, mehr als 50.000 Tonnen Metall zu verarbeiten. Herkömmliches Koks wird aus Steinkohle hergestellt und ist damit ein fossiler Brennstoff. Bio-Koks hingegen besteht aus biologisch abbaubaren Abfallprodukten.“ Die fallen beispielsweise in der Land- und Fortwirtschaft, aber auch in der Holz-, Recycling- und Lebensmittelindustrie an.

Feldversuch mit Bio-Koks

Wie sich die Umstellung auf Bio-Koks beim ökologischen Fußabdruck der KION Marke Linde Material Handling auswirken wird, weiß Koch derzeit noch nicht: „Jetzt heißt es erst mal Daten sammeln“, sagt der Werksleiter: „Bisher gibt es keine Gießerei, die Bio-Koks in Serie einsetzt. Daher erfahren wir erst durch unsere eigenen Versuche, welchen Effekt das Vorhaben für unsere CO2-Bilanz hat.“ Eines steht dagegen heute schon fest: In der Weilbacher Gießerei denkt man voraus – auch nach 200 Jahren.