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Virtuelle Testverfahren und 3D-Simulationen werden bei der Entwicklung von Flurförderzeugen immer wichtiger

3-D Simulationen, Temperaturkalkulationen und gerenderte Belastungsproben – längst ist „virtuelles Testing“ bei der KION Group ein fester Bestandteil bei der Entwicklung von Flurförderzeugen. Innovative Testverfahren erlauben es den Tochterunternehmen STILL und Linde Material Handling, Ressourcen einzusparen und den Aufwand beim physischen Testing gering zu halten. Die KION Group verheiratet hierbei gekonnt die zwei Testwelten und verbessert dadurch die Entwicklungsprozesse.

2022-06-15

Die Datenbrille sitzt, das Bild, das sich dem Ingenieur bietet, ist scharf und deutlich. Wohin er auch sieht: In der simulierten 3D-Rundumsicht hat er den typischen Ausblick eines Staplerfahrers. Er sieht Anbaukomponenten, die Kabine oder den Mast und kann im virtuellen Test abschätzen, ob das Sichtfeld seines Fahrzeugs verbessert werden muss. Diese Prüfung basiert auf CAD-Daten und simuliert umfassend die Sichtverhältnisse, die man aus der Kabine eines Linde- oder STILL-Staplers hat – ein Testvorgang, der inzwischen ausschließlich virtuell durchgeführt wird.

VR-Tools wie diese Datenbrille und virtuelle Testverfahren sind eine enorme Hilfestellung für die Fahrzeugentwickler. Eine, die es Ingenieuren in Echtzeit erlaubt, Designs und Ansätze zu überprüfen. Die, weit, bevor Komponenten oder Fahrzeuge in Produktion gehen, Klarheit darüber verschafft, ob das Modell den Anforderungen standhalten wird oder nicht. Es ist ein Instrument der Antizipation und ein Vorgang, der viel darüber verrät, wieviel Innovation hinter dem Testing und den Entwicklungsprozessen der KION Group steckt.

VR-Tools wie eine Datenbrille sind eine enorme Hilfestellung für die Fahrzeugentwickler.

Ressourceneinsparungen durch virtuelles Testing

Wer Teil 1 unserer Story zum Thema Testing gelesen hat, erinnert sich an die Bilder weitläufiger Parkour-Strecken und reale Langzeittests die STILL- und Linde-Gabelstapler während der Entwicklungsphase in Hamburg sowie Aschaffenburg auf sich nehmen müssen. Material, Ressourcen, Zeit – der Aufwand solcher Testverfahren ist enorm. Doch in Zukunft könnte das virtuelle Testing einen festen Platz neben dem physischen haben. Dirk Scharr, Vice President Product Validation & Testing, schätzt die Entwicklung so ein: „Langfristig wollen wir aufwendige Tests wie den Rundlauf durch Simulation ersetzen, dies wird nicht nur den Aufwand reduzieren, sondern auch zu einem früheren Zeitpunkt Ergebnisse zur Verfügung stellen und damit die Gesamtentwicklungsdauer verkürzen.“ Dass dies überhaupt denkbar ist, ist in erster Linie der Tatsache geschuldet, dass physikalisches Testing Unmengen von Daten liefert – und die KION Group sich diese Daten zunutze macht. Die daraus entstehenden, virtuellen Tests sind hier nicht nur mit einem enormen Einsparpotential verbunden – sie besitzen ganz konkrete Vorteile gegenüber dem physischen Testing.

Der digitale Zwilling eines Staplers.

Virtuelle Vorbereitungen, reale Umsetzungen

Wieder das Bild eines Gabelstaplers, der immerzu seine Runden dreht und über Hindernisse holpert. Doch diesmal hört man kein schweres Schlagen in weitläufigen Lagerhallen. Es handelt sich um seinen digitalen Zwilling, dargestellt von unzähligen geometrischen, virtuellen Elementen. Auf den Bildschirmen der Berechnungsingenieure ist eine Rundlaufsimulation zu sehen, die den Gabelstapler über die Hindernisse der virtuellen Teststrecke fahren lässt. Dabei werden im Programm Kräfte ausgelesen, die in der Realität nur mit aufwendigen, physischen Sensoren erfasst werden können. So zum Beispiel bei den kritischen Verbindungsstellen zwischen einzelnen Komponenten. Virtuelles Testing schafft hier Transparenz, die dem physischen zum Teil abhanden geht.

Doch Transparenz ist bei weitem nicht der einzige Vorteil. Mohamed Ben Ayed, Leiter für Calculation/Simulation bei KION, zückt eine Büroklammer, um einen weiteren zu demonstrieren. Er zieht den Metalldraht immer weiter auseinander und belastet ihn gezielt an mehreren Stellen, immer wieder. „Das Material leidet“, demonstriert er. Wieviel hält es aus? Um das rauszukriegen, muss man in der Realität neben Material vor allem eins aufwenden: Zeit. Virtuelle Spannungs- und Lebensdauerberechnungen verschaffen hier Abhilfe: Sie erlauben es, die Lebensdaueranforderungen an die Komponenten schnell zu überprüfen, auch, wenn beispielsweise die Materialzusammensetzung geändert werden soll. Denn das kann durch das gezielte Verändern von Parametern geleistet werden, anstatt dass die Komponente neu gebaut werden muss. All das verkürzt den Entwicklungsprozess deutlich und spart Ressourcen ein.

Datenerhebung in der Konzeptphase als Stunde der Wahrheit

Der Entwicklungsprozess ist auf die Beantwortung wichtiger Fragen angewiesen: Geht das Konzept in der Realität auf? Halten die Materialien die Belastungen aus? Antworten auf diese Fragen liefern vor allem Spannungs- und Lebensdauerberechnungen. Keine Vermessung, kein Prototypbau – zuallererst berechnen die Simulationsingenieure von STILL und Linde MH die Eigenschaften der Komponenten. Sollten ihre Kalkulationen und die daraus folgenden Ergebnisse zufriedenstellend sein, geht man zum Bau des Prototypen über. Die Konzeptphase ist also schon lange keine Phase reiner Ideenfindung mehr: Sie generiert valide Daten, die aus dem Entwicklungsprozess nicht mehr wegzudenken sind. Ein gutes Beispiel hierfür: Der Impact Drop Test. Aus Teil 1 unserer Themenreihe dürften die Bilder noch bekannt sein: Tonnenschwere Holzbündel, die auf das Dach des Gabelstaplers herunterfallen und Klarheit über die Widerstandsfähigkeit der Kabine verschaffen. Anstatt jedoch die Beschädigung zahlreicher Dächer in Kauf zu nehmen, werden im Vorfeld Berechnungen zur Verformung dieses Bauteils durchgeführt.

Simulationsingenieure betreiben also Detektivarbeit: Sie finden heraus, wo die Schwachstellen der Materialien liegen könnten – bevor man sie baut. Dabei werden nicht nur oberflächlich einwirkende Kräfte untersucht, sondern auch Temperaturverteilungen – und zwar innerhalb der Gabelstapler. Mithilfe von CFD-Strömungssimulationen wird im Vorfeld sichergestellt, dass die Komponenten nicht überhitzen. Das betrifft vor allem die Be- und Entlüftung innerhalb der Fahrzeuge. Funktioniert die Kühlung, wie sie soll? Welche Temperaturen stellen sich ab wann ein? Fragen, die das virtuelle Testing beantwortet.

Fortgeschrittene Mehrkörpersimulation zur Ermittlung von Produktbelastung.

Aus dem Inneren einer Brennstoffzelle

Doch auch beim Überprüfen der Energieträger spielt virtuelles Testing inzwischen eine gewichtige Rolle. Das Innenleben einer Bleisäurebatterie ist nicht ohne Tücken: Beim Aufladen wird unter anderem Wasserstoff produziert. Wird er nicht sachgemäß abgegeben, bilden sich kleine Gas-Ansammlungen, die Gefahrpotential haben. Also simuliert man die Strömungen der Gase im Vorfeld und testet: Wie verteilen sie sich innerhalb des Gehäuses und wie entweichen sie? Unterschiedliche Farbdichten zeigen hierbei die Gaskonzentrationen auf, demonstrieren Verteilung und Dichte. Bei der Brennstoffzelle verfährt man übrigens ähnlich: Die Reinigungsprozesse innerhalb des Energieträgers werden ebenfalls im Vorfeld simuliert, genauso wie die Wärmeverteilung innerhalb der Lithium-Ionen-Batterien. Hier greifen thermische Analysen: Die Überhitzung des Energieträgers soll ausgeschlossen werden.

All das zeigt: In nahezu allen Phasen des Entwicklungsprozesses spielt das virtuelle Testing inzwischen eine tragende Rolle – Tendenz steigend. Bedeutet dies, dass sich schon bald keine Gabelstapler mehr auf dem Testgelände tummeln oder auf den Hebebühnen platziert werden? Nein – so sieht es zumindest Mohamed Ben Ayed „Die große Herausforderung ist es, validierte Modelle zu bekommen. Am Ende muss das aufgebaute Modell nämlich die Realität hinreichend genau darstellen. Und das ist noch nicht überall der Fall.“ Eine abschließende, physische Validierung der Tests ist also noch unverzichtbar – und wird dies vorläufig bleiben. Test-Parkour und die Hebebühnen werden uns also noch eine ganze Weile erhalten bleiben – für eine möglichst optimale Sicherheit.