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„Bei KION gibt es bereits leuchtende Beispiele für ganz konkrete KI-Anwendungen“

Ob Smart Factories, Assistenzsysteme oder fahrerlose Transportsysteme (FTS) – bei den Marken der KION Group steckt in diesen Lösungen immer häufiger auch Künstliche Intelligenz (KI). KI wird helfen, den Lagerbetrieb zu optimieren, Nachfragen und Bottlenecks besser zu antizipieren und das Risiko von Über- oder Fehlbeständen zu verringern. Als globaler Technologieführer fördert die KION Group dieses Potential gezielt.

2023-07-05

Joachim Tödter, Senior Director Technology & Innovation bei KION, prägt das Thema seit vielen Jahren und treibt es immer weiter voran. Er weiß: Die Branche steht vor einem Paradigmenwechsel – weg von starren Systemen, hin zu dynamischen, offenen und KI-gesteuerten Abläufen. Dabei kommt neuronalen Netzen eine immer größere Bedeutung zu. Was das ist, erklärt er uns im Interview.

Herr Tödter, wann haben Sie damit angefangen, die Zukunft von KION zu erforschen?

Vor etwa 20 Jahren, ich habe damals in der Vorentwicklung gearbeitet. Damals gab es vorausschauende Vertriebskollegen, die nah am Kunden waren und die Ansicht vertraten, dass die Zukunft in flexibler Automatisierung liegt. Ich habe das ernst genommen und wir haben früh angefangen, zukunftsweisende Lösungen zu kreieren. Schon 2008 haben wir ein Pilotprojekt beim Kunden abgeliefert mit Fähigkeiten, die ihrer Zeit weit voraus waren: Eine Verschieberegalanlage mit Regalhöhen von bis zu acht Metern, die im Mischbetrieb manuell und automatisiert zum Einsatz kam.

Die Automatisierung ist also schon aus den Kinderschuhen raus?

Ja, man muss sich verdeutlichen: Fahrerlose Transportsysteme gibt es im Grunde seit 30 Jahren. Bislang war aber jede Inbetriebnahme ein eigenes Projekt und jede Anpassung war mit komplexen Konfigurationsaufwendungen verbunden. Hier setzen wir nun an: Bessere Sensorik und ausgefeilte Hard- und Software machen die Fahrzeuge flexibler einsetzbar. Das wird in Zukunft so weit gehen, dass der Einrichtungsvorgang komplett wegfallen dürfte, weil die Fahrzeuge sich künftig direkt selbst justieren und orientieren. Verändert sich das Warenlager, erkennt die Maschine dies und ‚denkt‘ mit. Der Trend geht also weg von starrer Automatisierung hin zu mehr Flexibilität. Ein gutes Beispiel hierfür ist STILLs Engagement mit dem Projekt ‚IMOCO under Industry4.E‘. Die Vision ist hier, dass sich FTF (Fahrerlose Transportfahrzeuge) mithilfe moderner Sensorik und KI völlig selbstständig in einem Lagerhaus bewegen – und auch Hindernisse umfahren. Dabei kommen Kameras, Radar und Laserscanner ins Spiel, und mithilfe von Künstlicher Intelligenz sind die FTF auch in der Lage, umliegende Objekte zu klassifizieren.

Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung sowie von der Europäischen Union unterstützte Projekt IMOCO zielt darauf ab, intelligente autonome Fahrzeuge für den Einsatz in Produktionsumgebungen und Lagern zu entwickeln. Das umfasst den Einsatz von Künstlicher Intelligenz, moderner Sensortechnologie und Kommunikation, um Fahrzeuge eigenständig navigieren, Hindernissen ausweichen und intelligent den Weg finden zu lassen. Das Projekt soll voraussichtlich im 4. Quartal 2024 abgeschlossen sein.

IMOCO: Mehr Intelligenz für autonome Transportfahrzeuge.

Das Stichwort heißt hier Machine Vision – richtig?

Ja, ganz massiv. Kameras in Verbindung mit KI-basierter Auswertung der Bilder versetzen die FTF zunehmend in die Lage, Dinge selbst zu ‚erkennen‘: Was ist ein Regal, was ist ein Mensch, was ist eine Palette? Umgebungsbedingungen differenziert wahrnehmen können, sie interpretieren und angepasst reagieren – das ist der Schlüssel. Die Drohnen von Dematic für die Analyse von Regalbediengeräten sind dafür ein erstes Beispiel: Maschinelle Intelligenz wird bald Fehler oder Schäden in den Anlagen erkennen können. Das ist ein neues Niveau.

Und wie genau funktioniert das in der Umsetzung?

Das Schlüsselprinzip liegt in neuronalen Netzen – das ist die Fähigkeit eines Systems, selbstständig neue Fähigkeiten zu erlernen. Neuronale Netze müssen zunächst einmal mit Daten-Input trainiert werden und können anschließend das Erlernte anwenden. Im Hinblick auf Bildauswertung heißt das zum Beispiel Gegenstände erkennen, die den Trainingsbeispielen ähneln. Es ist ein bisschen wie bei einem Kind: Man zeigt so lange Bilder von Katzen und Hunden, bis das Kind selbst unterscheiden kann, was eine Katze ist und was ein Hund. Der Unterschied ist: Die KI lernt viel schneller lernt als ein Kind.

Ein neuronales Netz ist ein Modell des maschinellen Lernens, das von der Struktur und Funktion des menschlichen Gehirns inspiriert ist. Es ist in der Lage, aus Daten zu lernen und wird anhand dieser gezielt für eine Verbesserung seiner Leistung trainiert. Durch Interaktionen zwischen einzelnen Neuronen entsteht ein komplexes Netz von Verbindungen, das in der Lage ist, Vorhersagungen und Klassifikationen durchzuführen und Muster zu erkennen.

Wo liegen die größten Chancen beim Einsatz von KI?

Die Chancen sind enorm – von verbesserter Effizienz bis hin zu mehr Flexibilität ist viel möglich. Beispielsweise können KI-Systeme die Bestandsverwaltung optimieren und helfen, Überbestände oder Engpässe zu vermeiden. Sie können durch präventive Datenanalyse potenzielle Systemprobleme frühzeitig erkennen. Oder Energiespitzen antizipieren und dadurch Kosten einsparen, wie es bei Linde Material Handling durch die Zusammenarbeit mit ifesca bereits passiert. Ein weiteres Beispiel ist das von der KION Group und ihren Kooperationspartnern gestartete Forschungsprojekt ‚ARIBIC‘ . Das Akronym steht für Artificial Intelligence-Based Indoor Cartography – und zeigt, was möglich ist, wenn wir mithilfe von Daten einen digitalen Zwilling des gesamten Lagers erschaffen, der in Echtzeit die Abläufe und Prozesse im Warenhaus abbildet.

Das Forschungsprojekt ARIBIC zielt darauf ab, einen digitalen Echtzeit-Zwilling eines Lagers zu erstellen. LeddarTech, das Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und das STARS Lab an der University of Toronto arbeiten gemeinsam mit KION an dem Projekt. Durch systematische Erfassung und Verarbeitung von Sensoren-Daten auf autonomen Transportfahrzeugen kann ARIBIC hochauflösende 3D-Karten erstellen. Diese Karten bieten Echtzeitinformationen, die zur Simulation und zur Optimierung von Fahrtrouten verwendet werden können.

Rechnen Sie damit, dass die KI in zehn oder 20 Jahren so schlau ist wie ein Mensch?

Da müssten wir zunächst einmal klären, was ‚schlau‘ in Bezug auf den Menschen bedeutet. Wenn man sich klar macht, was etwa KI-Lösungen wie chatGPT heute bereits leisten, lässt sich sagen: Diese Entwicklung hat sich viel schneller vollzogen als selbst von Experten erwartet. Ich kann mich an ein Pilotprojekt erinnern, bei dem wir maschinelles Sehen bei Gabelstaplern getestet haben. Da gab es vor ein paar Jahren eine Erkennungsrate von 80 bis 85 Prozent – das war durchaus beachtlich, aber für einen Praxiseinsatz undenkbar; die Fehlerquote war viel zu hoch. Inzwischen ist die Erkennungsrate aber so gut, dass man gar nicht mehr nachdenken muss, ob eine Implementierung Sinn macht – es versteht sich eigentlich von selbst. Insgesamt werden die Fähigkeiten der KI immer schneller immer besser. Inzwischen kann man von einer Verdopplung der Fähigkeiten alle acht oder neun Monate reden, und die Geschwindigkeit nimmt weiter zu. Wir nutzen heute bereits KI in der Entwicklung – als Unterstützung beim Schreiben von Software!

Können Sie sich vorstellen, dass ein FTS irgendwann selbstständig Lösungen für Intralogistik-Herausforderungen findet?

Auf jeden Fall. Nehmen Sie das Beispiel Reinforcement Learning: Da wird einem virtuellen Modell eine Aufgabe gestellt, für die es Lösungen finden soll. Wir nutzen das jetzt schon, zum Beispiel wenn es darum geht, wie ein FTF eine Ladung aufnehmen soll. Wir lassen das Gerät den Ablauf in einer Simulationsumgebung zigfach in endlos vielen Varianten ausprobieren – bis die optimale, effizienteste Lösung gefunden ist. Das geschieht komplett virtuell, über Nacht, tausend- und millionenfach, bis die gefundene Lösung den Anforderungen entspricht. Statt dass ein Ingenieur aufwendig viele Routen programmieren muss, erarbeiten die Maschinen jetzt selbstständig die Lösungen.

Maschinelles Sehen ist ein Zweig der Künstlichen Intelligenz, der es Computern ermöglicht, visuelle Informationen aus Bildern oder Videos zu interpretieren. Maschinelles Sehen basiert auf der Verarbeitung von Bilddaten durch neuronale Netze, die Bilder analysieren, um Muster und Merkmale zu erkennen. Diese können dann zur Identifizierung von Objekten, Personen, Szenen und mehr verwendet werden.

Braucht man dann künftig gar keinen Menschen mehr im Warenlager?

Absehbar werden immer Menschen im Warenlager benötigt werden. Es gibt in Lagern aber zahlreiche monotone und körperlich anstrengende Tätigkeiten, für die unsere Kunden schon heute keine Arbeitskräfte mehr finden. Aus diesem Grund wird Automatisierung zunehmend nachgefragt. FTF werden bei diesen Tätigkeiten die Fahrer ersetzen. Bei allen Tätigkeiten jedoch, für die besonderes Fingerspitzengefühl nötig ist oder die sehr situationsangepasst ausgeführt werden müssen, werden Fahrer so schnell nicht zu ersetzen sein. Der Faktor Mensch wird in vielen Bereichen bei repetitiven Aufgaben durch Maschinen ersetzt werden – aber Fachkräfte, die Anlagen installieren, testen und betriebsfähig halten können, werden gefragter sein denn je.

Gibt es ein KION-Produkt, von dem Sie sagen: Das ist ein leuchtendes Beispiel für die Intralogistik von morgen?

Fahrerlose Transportsysteme wie der iGo neo von STILL werden aus der Intralogistik bald nicht mehr wegzudenken sein: Ein intelligentes Produkt, das mit dem Menschen zusammenarbeitet und die Abläufe für die Anwender einfacher macht. Aber auch das Lademanagement von ifesca ist zukunftsträchtig, oder der LoadRunner mit dem schwarmbefähigten Transport etlicher kleiner Behälter. Oder nehmen Sie das Forschungsprojekt ARIBIC, das Echtzeit-Inventuren möglich macht. Sie sehen: Bei KION mangelt es nicht an leuchtenden Beispielen.

Mithilfe modernster Sensorik erkennt der OPX iGo neo seinen Bediener sowie seine Umgebung, Hindernisse und Abstände.

Glauben Sie, dass Künstliche Intelligenz irgendwann auch Ihren Beruf obsolet macht?

Ja, das kann ich mir vorstellen – vielleicht in 30 Jahren, vielleicht in 300 Jahren. Das heißt übrigens nicht, dass wir Menschen in Zukunft nur noch faul in der Sonne liegen werden. Wir reden nämlich gerade von ‚schwacher‘ KI – die wird ohne Frage bemerkenswert agieren und für viele Entlastungen sorgen. Ich tue mich aktuell noch schwer damit zu glauben, dass es irgendwann eine ‚starke‘ KI geben wird, die Aufgaben von Menschen in der gesamten Breite wird erledigen können. ‚Schwache‘ KI, die dem Menschen zuarbeitet und lästige Aufgaben übernimmt – da sehe ich gigantisches Potential. Das wird kommen, das wird uns helfen. Einen Kontrollverlust für den Menschen sehe ich derzeit aber definitiv nicht, auch wenn es spannend und absolut notwendig ist, über die Möglichkeiten und Risiken von ‚starker‘ KI nachzudenken.

Stichwort Risiken – wo sehen Sie diese?

Die Angst vor Arbeitsplatzverlusten ist nicht von der Hand zu weisen. Und es gibt neben der autonomen Mobilität bestimmte Aspekte in der Warenhauslogistik, die von KI-basierten Automatisierungslösungen zunehmend übernommen werden. Automatisierte Lagerverwaltungen, wie die KION Konzerntochter Dematic sie beispielsweise anbietet, werden in der Zukunft eine immer größere Rolle spielen. Hier werden Prozesse wie Bestandsverwaltung, Versand und Kommissionierung automatisiert. Zwar entstehen dadurch gleichzeitig neue Jobs, die mit der Wartung und Bedienung der KI-Systeme einhergehen. Doch bestimmte Berufsfelder werden sich grundlegend in den nächsten Jahren verändern. Das gilt übrigens nicht nur für die Intralogistik: An dieser Stelle möchte ich auf eine aktuelle Goldman Sachs-Studie von 2023 verweisen. Demnach werden bis zu 300 Millionen Stellen weltweit von den jüngsten Entwicklungen betroffen sein – vor allem in der Verwaltung, bei der Software-Programmierung oder im Kreativsektor. Das gibt einem schon zu denken.

Die LoadRunner nehmen komplett autonom Pakete auf und legen diese an der richtigen Stelle wieder ab, ohne dass sie miteinander kollidieren.

Wie sieht es mit der Datensicherheit aus? KI-Systeme benötigen ja große Mengen von Daten, um funktionieren zu können.

Das ist richtig. Wir bauen deshalb die KAP auf, KION’s Analytics Platform, in der diese Daten sicher abgelegt werden, aber für autorisierte Personen gleichzeitig komfortabel im Zugriff sind. Dabei ist nicht nur die Menge der Daten entscheidend, die sicher geschützt werden müssen. Sondern auch die Qualität der Daten: Wenn KI-Systeme auf Basis von ungenauen oder gar unvollständigen Daten fehlerhafte Entscheidungen treffen, kann das in einem Warenlager zu erheblichen Problemen führen. Hier kommt der Mensch ins Spiel: KI-Systeme müssen regelmäßig überwacht und auch validiert werden, um sicherzustellen, dass sie korrekt funktionieren und die richtigen Entscheidungen treffen. Und hier wird der Mensch auf lange Sicht unerlässlich bleiben.